Gesundheitsreligion?
Gesundheitsreligion?
Jeder, der einmal ernsthaft krank war, wird den Wert der Gesundheit zu schätzen wissen. Und wer unter einer chronischen Krankheit leidet, erst recht. Eine gesunde Lebensweise verlängert das Leben und auch schon in der Bibel steht: „Ehe du krank wirst, sorge für die Gesundheit“ (Sir 18,19). Gesundheit ist ein hoher Wert im Leben, ja er ist entscheidend für die Lebensqualität. Entscheidender als Wohlstand. „Lieber ein gesunder Bettler als ein kranker König“ sagt ein Sprichwort.
Doch kann die Gesundheit auch – wie die Schönheit – zum Kult, zu einer Art Ersatzreligion werden. Der Theologe und Arzt Manfred Lütz schreibt dazu: „Wenn es keinen lieben Gott gibt und mit dem Tod alles aus ist, dann wird es hektisch im Leben. Mit allen Mitteln versucht man den Tod zu bekämpfen, denn der Tod ist der Todfeind der Gesundheitsreligion. Man versucht quasi das ewige Leben im Diesseits zu produzieren, was natürlich ein völlig aussichtsloses Projekt ist“.
Ausformungen dieser „Religion“ habe ich in den letzten Monaten der sogenannten „Corona-Pandemie“ selbst erleben können. Große Teile der Gesellschaft erstarrte in der Angst, krank zu werden, sich „anzustecken“. Ich habe Menschen erlebt, die zurückwichen, wenn man ihnen einen oder zwei Zentimeter näherkam. Alte und junge Menschen. Auf einer Beerdigung sah ich einen Mann, der weit hinten vermummt mit Maske und Handschuhen auf dem Friedhof im Freien stand. Ich fürchte, der Mann wird durch diese Panik sein Leben eher verkürzen als verlängern. Dann beherrscht die Angst vor Krankheit und Sterben das Leben. Ist das dann noch „Leben“ – oder eher nur „Überleben in Angst“?
Vielleicht bin ich durch meine Arbeit gelassener geworden, weil ich seit Jahren die Brüchigkeit und Endlichkeit des Irdischen erlebe. Ich habe schon zu viele scheinbar Gesunde begraben, als daß ich mir noch Illusionen machte. Darum habe ich in den letzten Wochen auf meinen Beerdigungen öfter aus Matthäus Kapitel 6 („Über die rechte Sorge“) zitiert, wo unter anderem der Satz steht: „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Spanne verlängern?“ (Mt 6,27).
Leider musste ich feststellen, daß auch meine Kirche den Kampf gegen die Gesundheitsreligion verloren oder zumindest aufgegeben hat. In der Bibel finden wir 126mal die Worte „fürchtet euch nicht“. Bei meinen (spärlich gewordenen) Besuche in den Gottesdiensten nach dem Lockdown habe ich jedoch fast nur „Heidenangst“ statt „Gottesfurcht“ erlebt.