Artikel von der FAZ: Nach zwei Wochen Trauer ist aber bitte Schluss!
Quelle: Frankfurter Allgemeine – faz.net von Andrea Freund
Der Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen hat im öffentlichen Leben kaum noch Platz. Getrauert werden soll allein im Privaten, möglichst still und bloß nicht zu lang – das erwartet mittlerweile gar die Medizin.
Manches Grablicht, das in diesen Novembertagen auf dem Friedhof lebendig flackert, tut nur so. Statt einer Flamme brennt darin eine LED-Leuchte mit „realistischem Kerzenschein“. Die alten Kerzen im roten Plastikbecher schaffen es gerade über ein Gedenkwochenende, die künstliche Konkurrenz hält mit ihrer Batterie 200 Tage durch. Mehr als ein halbes Jahr. Und damit deutlich länger, als ein Mensch trauern darf, ohne als seelisch krank zu gelten. Zumindest, wenn es nach dem DSM-5 geht, der neuen Auflage des Diagnosemanuals für psychische Störungen der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung. Anfang Dezember erscheint die deutsche Übersetzung davon, in der ebenfalls stehen wird, dass zwei Wochen nach dem Verlust eines geliebten Menschen Symptome wie Niedergeschlagenheit, Appetitverlust, Gewichtsabnahme, Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug und Schlafstörungen als Depression diagnostiziert werden können.
Das DSM-3 von 1980 hatte für Trauer noch ein ganzes Jahr zugestanden, das DSM-4 von 2000 schon nur noch zwei Monate. Und jetzt also vierzehn Tage.
Beinahe hätte das DSM-5 gar nicht mehr zwischen natürlicher Trauer und Depression unterschieden. „In der ursprünglichen Fassung sollte jede ausgeprägtere Trauer Depression sein“, sagt Professor Wolfgang Maier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Doch da der Protest gegen diese knappe zeitliche Definition zu groß wurde, sei nachträglich ins DSM-5 eine Anmerkung hineingeschrieben und eine Fußnote zum Umgang mit Trauer angeklebt worden, sagt Maier. „Die Autoren lassen es nun offen, eine feste Grenze zu setzen zwischen Trauer und Depression.“ Das Problem dabei: Wenn der Arzt diese Ergänzungen im Einzelfall nicht mit Sorgfalt anwende, könne es zu einer Überdiagnose kommen, sagt Maier. Nicht nur aus den Vereinigten Staaten kommt Kritik, dass Symptome von Trauer dann zu schnell mit Medikamenten wie Antidepressiva behandelt werden könnten.
„Trauer ist sehr persönlich und individuell“
„Trauer ist sehr persönlich und individuell, folglich dauert sie bei jedem Menschen unterschiedlich lang“, sagt Maier, „aber erst, wenn die Verarbeitung des Verlustes, dass ein Mensch gestorben ist, nicht glückt, es zu einer langfristigen Trauerreaktion kommt und jemand seinen Alltag etwa auch nach einem Jahr nicht bewältigen kann, wird daraus eine Erkrankung.“ Zehn bis 15 Prozent aller Trauernden sind von dieser „prolongierten“ oder „pathologischen“ Trauer betroffen. Es heißt, die Verfasser des DSM-5 konnten sich aber nicht darauf verständigen, diese spezielle Form aufzunehmen. Und so kommt sie im DSM-5 gar nicht vor. Anders als im ICD, einem weiteren Diagnosemanual, dessen elfte Auflage die Weltgesundheitsorganisation 2017 herausgeben will. Darin wird vermutlich die „pathologische Trauer“ benannt sein. Das ICD wird in Deutschland vor allem von niedergelassenen Ärzten genutzt, das DSM in Kliniken.
Doch vielleicht beschreibt – allen wissenschaftlichen Diskussionen und fachlichen Definitionen zum Trotz – das DSM-5 eigentlich nur die gesellschaftliche Entwicklung. Denn wie „normal“ ist Trauer tatsächlich heute noch? Wie viel Raum geben wir dieser tiefsten aller Verlusterfahrungen noch, dem Gefühlschaos aus Traurigkeit, Wut, Angst, manchmal auch Schuld? „Nach 14 Tagen jedenfalls hat man den Verlust noch gar nicht ermessen“, sagt die Schweizer Psychoanalytikerin und Psychologieprofessorin Verena Kast, „da ist man noch wie vor den Kopf geschlagen.“
Früher fanden Menschen in dieser Situation Halt in kirchlichen Normen, in Traditionen wie schwarzer Trauerkleidung, dem Einhalten des Trauerjahrs, in Ritualen wie dem Aufbahren eines Verstorbenen in seinem Haus, so dass Zeit war, das Unabänderliche sichtbar zur Gewissheit werden zu lassen. Der Tod war Teil des Lebens – wobei wenig darüber bekannt ist, wie viel empfundene und wie viel sozial verordnete Trauer die Menschen zeigten.
Die Verunsicherung wächst
Im 21. Jahrhundert hingegen ist Schwarz eine Modefarbe, der Tod und mit ihr die Trauer sind aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden. Stattdessen „gibt es eine Verlagerung ins Private“, sagt die Soziologin Nina Jakoby, die an der Universität Zürich zur Soziologie der Trauer forscht. Im privaten Umfeld ist nun einerseits nahezu alles erlaubt, was den Hinterbliebenen gefällt oder der Letzte Wille des Verstorbenen war – Trauerfeiern mit oder ohne Priester und mit freien Trauerrednern, mit ernster oder fröhlicher Musik am Grab, bunter Kleidung, Bestattungen im Sarg, auf See, im Friedwald oder in der Urne.
Andererseits wächst die Verunsicherung: Was trägt „man“ denn heute auf einer Beerdigung? Was sagt man zu jemand, dessen Partner oder Kind gestorben ist oder sich vielleicht sogar das Leben genommen hat? Was gibt man Trauernden an die Hand? Und vor allem: Wie trauert man richtig? Das könnte nun ebenfalls eine private Entscheidung sein, aber: „Neue Trauernormen haben die alten abgelöst“, sagt Jakoby. Dazu gehöre, dass es falsch sei, keine Trauer zu empfinden, zu stark zu trauern, zum falschen Zeitpunkt oder am falschen Ort, etwa in der Schule oder am Arbeitsplatz. Trauer sei kein Thema für die Kantine.
„Wir leben in einer Kultur der Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung, da passen Trauer und Tränen als Zeichen des Kontrollverlusts mit hoher Emotionalität nicht hinein“, sagt die Soziologin, „Trauer richtet sich gegen Produktivität und Funktionalität und kann als Schwäche wahrgenommen werden.“
Trauer stört im alltäglichen Miteinander
Das moderne Leben macht uns vor, alles im Griff haben zu können, wenn wir uns nur genug anstrengen: Beziehung, Karriere, Familienplanung, Gesundheit, Schönheit, Glück. Der Tod eines Menschen und die damit verbundenen Gefühle aber rühren an die eigene Vergänglichkeit. Bei demjenigen, der trauert, und bei allen, die damit in Berührung kommen.
Da verwundert es nicht, dass gut jeder Vierte nach einem Trauerfall den Druck seines Umfeldes fühlt, möglichst rasch wieder seinen geregelten Alltag aufzunehmen. Das zeigte eine Online-Befragung, die Jakoby und zwei Kolleginnen im vergangenen Jahr vor allem in Deutschland und der Schweiz durchführten. Gut die Hälfte der Befragten fühlte sich wohler, wenn sie ihre Trauer während einer Beerdigung für sich behielte, und fast die Hälfte handelte so, um keine Belastung für andere zu sein. Diesen Grund nannten auch 42 Prozent auf die Frage, warum sie nach einem Trauerfall mit anderen – Familienmitgliedern, Freunden, Partnern – nicht über ihre Gefühle sprachen.
Trauer stört im alltäglichen Miteinander. „Obwohl inzwischen eine scheinbare Offenheit im Umgang mit Trauer existiert, mit virtuellen Friedhöfen oder Trauerportalen und auf Plattformen wie Facebook, gibt es doch Schwierigkeiten, offen darüber zu kommunizieren,“ stellt Jakoby fest. Zumal mit nahestehenden Menschen in persönlichen Begegnungen. Zuspruch wird gewährt, aber nur für eine begrenzte Zeit nach einem Todesfall. „Andauernde Trauergefühle, der permanente Schmerz und die Verzweiflung sind für andere schwer auszuhalten, zumal man nur zuhören, aber nichts machen kann.“ Schnell kommt dann bei dem Zuhörer das Gefühl der Unsicherheit, verbunden mit Hilflosigkeit hoch. Eine Empfindung, die unangenehm ist. Entsprechend waren gut 40 Prozent der Befragten der Ansicht, dass Menschen, die zu lange trauern – wobei „lange“ nicht definiert ist –, eine Belastung für Familienmitglieder und Freunde sind.
Geändert hat sich auch das Ziel der Trauerbewältigung
Geändert hat sich in den vergangenen Jahren auch das Ziel der Trauerbewältigung. „Frühere Modelle gingen davon aus, dass Trauer abgearbeitet und beendet werden muss“, so Jakoby, heute setze sich immer mehr ein Modell der langfristigen Bindung mit dem Toten durch, eine Art aushaltbare Trauer, die Teil des Lebens sei: „Trauer hört nicht auf, nur der Schmerz wandelt sich und wird durch Liebe und Dankbarkeit ergänzt.“ Immer wichtiger wird es, nach dem Tod eines nahestehenden Menschen diesen nicht loszulassen und zu vergessen, sondern einerseits das Leben neu auszurichten, andererseits aber die Beziehung zu bewahren. Der Verstorbene wird etwa als innerer Ratgeber wahrgenommen, gewissermaßen eine moderne Form der früheren Zwiesprache am Grab.
Dazu trägt eine wachsende Zahl an Büchern über Spiritualität, Nahtoderlebnisse, Engel- und Jenseitskontakte bei. Religion und Spiritualität verbinden sich heute immer häufiger. Wenn die Trauer schon privat ist, kann darin jeder seinen individuellen Trost finden. „Die großen Haltepunkte bestehen nicht mehr“, hat Professor Christoph Jedan beobachtet. Der Philosophiehistoriker betreut an der Universität Groningen in den Niederlanden ein Forschungsprojekt zur Trostkultur. „Für eine lange Zeit haben Philosophen und Theologen versucht, Trauernden zu sagen, wie sich der Verlust in einen größeren Kontext einbetten lässt. Das können sich viele heute gar nicht mehr vorstellen, gleichzeitig haben wir aber kaum eigene Strategien, um mit Trauer umzugehen.“ Die Selbsthilfeliteratur fülle diese Lücke, sei aber eigentlich nichts Neues: „Das gibt es seit 2500 Jahren“, so Jedan, „im 15. Jahrhundert etwa verfassten kirchliche Autoren Memento-Mori-Literatur, die dem Sterbenden die Autorität darüber zurückgab, ob er in die Hölle oder den Himmel kommt – durch sein Verhalten in der Todesstunde.“
Die Privatisierung der Trauer hat vor einigen Jahren auch die „Pocket Cemetery App“ hervorgebracht, den „Taschenfriedhof“ fürs Smartphone. Man konnte einen Grabstein entwerfen für jemand anderes oder sich selbst. Ihn bunt färben, ein Bild einklinken, einen Spruch „eingravieren“, ein Gebet senden und Blumen, die am Rande des Displays aufblühten. Grablichter gab es nicht. Inzwischen ist diese „Trauer-to-go-App“ beerdigt worden. Irgendwie tröstlich.
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