Von anderem Sterben
Es sterben nicht nur Kreaturen. Wenn Dinge oder Haltungen verschwinden, spricht man auch im übertragenen Sinne vom Sterben, vom Aussterben, Absterben u.a. So beobachte ich gegenwärtig ebenfalls schleichende Sterbeprozesse.
Zum Beispiel das Sterben der Willkommenskultur. Nicht den Euphemismus für das Schönreden misslungener Integration. Nein, der Willkommenskultur im alltäglichen Miteinander in Zeiten des Hygienewahns.
Ich nenne einige Beispiele. Am letzten Sonntag war ich nach sechs Wochen zum ersten Mal wieder im Gottesdienst. Vor drei Jahren konnte ich krankheitsbedingt gezwungen auch einige Wochen keinen Gottesdienst besuchen. Damals fiel Weihnachten für mich aus. Als ich das erste Mal wieder mitfeiern konnte, habe ich geweint vor Freude. Letzten Sonntag habe ich keine Freude empfunden, sondern hatte nur ein komisches Gefühl.
Natürlich waren die Hygieneregeln befremdlich. Die Liste der Verhaltensregeln war länger als die zehn Gebote. Aber entscheiden war: Ich fühlte mich nicht willkommen. Ich war kein Besucher, kein Gast, kein Gläubiger, ich war ein potenzieller Krankheitsüberträger, vor dem man sich schützen muss.
Das gleiche gilt für Restaurants, die jetzt wieder unter Auflagen öffnen konnten. Diese Auflagen führen dazu, daß die Menschen sich auch dort nicht willkommen fühlen können. Ein Restaurantbesuch dient nicht allein der Nahrungsaufnahme. Hier wird Esskultur gelebt. Auch Trinkkultur. Diese sterben mit der Willkommenskultur weg. Die Restaurants werden offen sein, aber leer. Die Menschen fühlen sich nicht als Gast, sondern als Gefährder behandelt. Mir persönlich ist inzwischen sogar das Einkaufen zuwider. Maske auf, Abstand halten, misstrauische und missgelaunte Mitmenschen, Gereiztheit allerorten.
Und auch die Abschiedskultur stirbt. Ich habe das auf Beerdigungen in den letzten Wochen erlebt. Auch hier war die Hygiene wichtiger als die Trauer. Es ist uns dennoch immer gelungen, eine würdevolle Feier zu machen.
Hier stirbt derzeit mehr als Umsatz und Gewinn. Hier stirbt auch die Kultur des Miteinanders. Wir sollten uns ernsthaft fragen, ob all diese Verluste angemessen sind, um Hygiene zu pflegen. Ich bekomme mehr und mehr Zweifel.