Mein Fall. Eine ganz andere Geschichte

von | Okt 28, 2020 | Blog

Momentan lese ich „Mein Fall“ von Josef Haslinger, in dem er seine Erlebnisse als Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche aufarbeitet. Die Lektüre ist bedrückend und ekelhaft. Ich denke, es wird an der Zeit, den falschen Korpsgeist in der Kirche aufzugeben, für Transparenz zu sorgen, die Opfer – so weit möglich – zu entschädigen und die Verantwortlichen auch einem irdischen Richter zu überantworten, bevor sie in ewiger Verdammnis landen, so sie nicht umkehren zu Gott und aufrichtig bereuen.

Gerade angesichts der Lektüre ist es mir wichtig, eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Denn mein „Fall“ ist Gott sei Dank ganz anders verlaufen. Ich stamme aus keinem sehr frommen Elternhaus und bin zum Glauben, zur Kirche, zum Studium der Theologie hauptsächlich durch die Priester gekommen, die mir begegnet sind und die mich geprägt haben. Ich würde sie unterteilen in die „Väter“, die „Brüder“ und die „Söhne“.

Als ich Kind war, hatten wir einen versoffenen Pfarrer, so daß es mir leichtfiel, den leicht überheblichen „Pubertätsatheismus“ des Heranwachsenden zu pflegen. Aber dem Herrn Pfarrer sagten Wein und weibliche Reize zu, nicht kleine Jungs. Als ich 16 Jahre wurde, traten zwei der „Väter“ in mein (Glaubens)leben. Ein neuer Vikar und ein neuer Pastor. Es war wie eine Erlösung für einen begeisterungswilligen jungen Mann, hier mit Menschen zusammenzukommen, die ihren Glauben und ihr Zeugnis lebten. Und die uns Junge in unserer Ungestümheit, unserer Frechheit und unserer Rebellion gegen das „Alte“ ernst nahmen und führten. Dazu kam mein Religionslehrer, ein großartiger Mensch und Gelehrter, mit dem ich bis an sein Lebensende befreundet blieb. Was war ich stolz, als mir dieser „Vater“ irgendwann das Du angeboten hat.

Auch der nächste Vikar war ein großartiger Priester. Da er vorher Studentenpfarrer in Paris gewesen war und so redeten wir uns auch spaßeshalber mit „mon père“ und „mon fils“ an. Er führte uns durch Europa. Wir waren in Frankreich, in Polen, in Ungarn und erlebten so „Kirche“ in einem ganz anderen Kontext, größer, vielfältiger. Es war die erste Ahnung davon, daß unsere Kirche „katholisch“ ist, also allumfassend, total, universell. Mein letzter „Vater“ wurde dann mein Doktorvater an der Uni. Für viele Professoren sind Dissertationen ihrer Studenten eher eine lästige Sache (meine Frau musste das schmerzlich erfahren). Er aber führte mich mit fester Hand über die Klippen, von denen ein Jungakademiker schnell herunterfallen kann.

Dann kamen die „Brüder“. Hier möchte ich besonders zwei hervorheben, deren Vornamen beide mit J beginnen. Der eine führte mich zu meiner Berufung im Beerdigungsdienst. Er hat das Talent erkannt, das Gott mir da gegeben hat. Der andere ist mein jetziger Pfarrer, der auch als Krankenhausseelsorger tätig ist und mit dem ich zusammen ein Projekt angestoßen habe, wie Ärzte schwierige Gespräche mit Patienten führen lernen. In den verrückten Zeiten der Kirchenschließung haben wir einige Male bei uns zu Hause eine Hausmesse gefeiert, was eine sehr intensive Erfahrung ist. Beide achte und schätze ich als Mensch, als Christ und als Priester.

Bleiben die „Söhne“. Da ist bislang noch nicht viel in Sicht, aber bei uns im Pastoralverbund gibt es einen jungen Vikar, der sehr vielversprechend ist und der ein glaubwürdiger Zeuge mit einer tiefen und echten Frömmigkeit ist, ein wahrhaft Berufener. Er wird auch segensreich wirken und wie alle wirklich guten Priester in der Kirche kaum eine große Karriere machen.

Gott hat mir mit diesen Glaubenszeugen eine große Gnade widerfahren lassen. Ich danke Gott für diese Zeugen, aber ich danke auch den Glaubenszeugen selbst. Denn Gottes Wirken ist nicht magisch, sondern konkret in menschlicher Begegnung und Zuwendung. Denn wie titelt der (evangelische) Pfarrer und Publizist Helmut Mathies sein neues Buch: Gott kann auch anders.