Erinnern oder besser Vergessen?

Erinnern oder besser Vergessen?

Erinnern oder besser Vergessen?

Kennen Sie virtuelle Friedhöfe? Jetzt, wo alle Welt sich digitalisiert, entstehen auch sogenannte „Internetfriedhöfe“. Ich will den partiellen Nutzen solcher Formen der Erinnerung nicht bestreiten, aber tief innen drin habe ich massiv Bauchschmerzen mit solcher Art Erinnerungs- und Trauerkultur.

„Das Netz vergisst nichts“ heißt es nicht zu Unrecht. Einer dieser virtuellen Friedhöfe trägt sogar den Namen „Stayalive“ und wird vom Betreiber als „Portal für die digitale Unsterblichkeit“ beworben. Und hier wird es m.E. problematisch. 

Ich will keinem Betreiber seine ehrenwerten Motive für solche Ideen absprechen, nichtsdestotrotz halte ich sie aufgrund meiner Erfahrung in der Trauerarbeit für falsch und wenig hilfreich. Tröstet uns die „digitale Unsterblichkeit“ denn wirklich? Was passiert mit einem Menschen, der tagtäglich mehrmals mit seinem Verstorbenen online kommuniziert? Wie würden wir einen Menschen beurteilen, der tagtäglich mehrere Stunden auf dem Friedhof am Grab verbringt? 

So etwas kann auch zu einem steten Offenhalten einer seelischen Wunde führen und das für den Menschen schädlich. Jeder, der schon einmal einen geliebten Menschen verloren hat, weiß das. Echte Trauer bedeutet ja denn auch beides: Ein Rückblick auf das Vergangene und einen Ausblick auf das Kommende.  Wir müssen uns bewusst vom Vergangenen abwenden und bewusst dem Kommenden zuwenden. Das ist oft leichter gesagt als getan. Es ändert aber nichts daran, es zu tun. Aber wenn wir dann merken, daß uns im Laufe der Zeit das Loslassen gelungen ist, empfinden wir eine unglaubliche Befreiung und Erleichterung. 

Aus Sicht der Trauerbegleitung ist ein Gedenken – auch im Internet – durchaus sinnvoll und heilsam, wenn es mit zeitlichem Abstand entspannter wird. Das hat nichts mit Abkehr vom liebevollen Gedenken zu tun. Es sind natürliche und heilsame Prozesse, die dadurch auftreten. Wunden verheilen, auch wenn sie vernarben und sichtbar bleiben. Aber es dient niemals der Linderung oder Gesundung, Wunden künstlich offen zu halten oder sich mit Erinnerungen zu quälen. Denn Erinnern soll trösten und nicht weh tun.

Bild von carolynabooth auf Pixabay
Über Tote nur Gutes

Über Tote nur Gutes

Über Tote nur Gutes

„De mortui nil nise bene“ sagten die Römer. Man möge über Tote nur Gutes reden. Grundsätzlich ist das schon richtig, aber was passiert, wenn es schwierig oder gar unmöglich ist? Wenn der Verstorbene ein Widerling war? Den keiner auch nur ansatzweise leiden konnte und dem eigentlich keiner wirklich nachtrauert? 

Bei den Hunderten von Ansprachen, die ich auf Beerdigungen gehalten hatte, konnte ich fast immer irgendetwas Gutes über die Verstorbenen sagen. Gott sei Dank. Aber es gab auch Fälle, da ging das beim besten Willen nicht. 

Solche Balanceakte gehören zu den schwierigsten Momenten in der Arbeit eines Redners. Man kann ja nicht sagen: Wir begraben ein altes Arschloch, und fast alle sind froh, daß er tot ist. Ich halte nichts davon, Menschen „ins Grab zu spucken“. Für einen Beerdigungsredner gehört sich einfach nicht. Bei Familienmitgliedern, die teilweise Jahrzehnte unter diesem Menschen leiden mussten, ist das etwas anderes. Das und anderes müssen sie mit sich und ihrem Gewissen aufmachen. 

Bei einer Feier ist das anders. Natürlich ist es auch falsch, die Verstorbenen „schönzulügen“. Wir alle kennen das, wenn wir auf einer Beerdigung sind und der Pfarrer oder der Redner irgendwas erzählt und man sich fragt: Von wem redet der hier?  Das ist ja das Problem solcher Beerdigungen, daß alle wissen, daß da ein Arschloch oder Kotzbrocken beerdigt wird, egal, was über ihn gesagt wird. Ich halte mich in solchen Situationen stark an allgemeine tröstliche Dinge zu Tod und Sterben. Bei religiösen Feiern kann man immer Bibelstellen finden, denn gerade Gott ist ja den Sündern gegenüber gnädig und barmherzig. Und wie sagt Jesus zu recht: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt 7,1). 

Meistens aber kann man Gutes sagen über die Menschen. Ich erfahre das immer in den seelsorglichen Gesprächen, in denen wir die Feier vorbereiten. Meist spüre ich recht schnell, wenn irgendwo ein Problem oder ein Schicksal lauert und die Menschen erzählen es mir auch bald darauf. Ich ermuntere sie immer, unter dem Mantel der absoluten Verschwiegenheit offen mit mir über alles zu reden. Denn es findet sich immer irgendetwas Gutes; es ist nie alles dunkel oder alles hell. Und dann kann man auch über dieses Gute mit gutem Gewissen auf der Beerdigung sprechen. Und niemand hat das Gefühl, belogen zu werden.

Bildquelle: Joe K. [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons